Kurzgeschichten

Ausschreibungen und Wettbewerbstipps für Kurzgeschichten finde ich meistens im Schreiblust-Verlag

Alte Ufer

Der Möbelwagen fährt die enge Hofeinfahrt hinauf. Ich kann nur mit Mühe den Kloß in meinem Hals herunterschlucken. Es ist so weit. In ein paar Stunden sind auch die restlichen Möbel verschwunden, die letzten Erinnerungen aus dem Haus getragen, in dem ich fast zwanzig Jahre gelebt habe. Dann ist alles nur noch auf Fotos und in meinem Kopf. Routiniert tragen die Umzugshelfer einen Karton nach dem anderen in den Laster. Sie haben einen langen Weg vor sich, von Berlin nach Borkum, die Insel, die ich als Sechzehnjährige verlassen habe und auf die ich nie mehr zurückkehren wollte. „Irgendwann kommen alle zurück“, hatte meine Oma immer gesagt, wenn sie mit wehmütigem Blick den Schiffen hinterher sah, die Touristen wieder in ihren Alltag und Inselflüchtige in ihr neues Leben schipperten. Es war das erste Mal, dass ich ihr nicht geglaubt habe. Ich gehe noch einmal durch unser Haus. Ich sage immer noch unser, obwohl Ralf seit fünf Jahren nicht mehr hier wohnt. 200 Quadratmeter schlichte Eleganz – wie stolz wir waren. Der Gedanke, dass bald fremde Leute hier einziehen werden und unseren Rückzugsort mit ihrem Leben füllen, umklammert mein Herz mit eisernem Griff. Sie wissen nichts über uns. Als Ralf auszog, um mit einer anderen Frau ein neues Leben zu beginnen, bin ich wochenlang nicht aus dem Haus gegangen. Ich wollte meine Burg nicht verlassen, habe Telefon und Klingel ab- und mich totgestellt. Einzig mein geliebter Kater wich mir keinen Zentimeter von der Seite und leckte meine Hand, als ich die Sofakissen klitschnass heulte. 
Ich habe viele fremde Männer mit in unser Haus gebracht, was Ralf kann, kann ich schon lange. Habe eine neue Liebe gesucht, ein neues Leben, aber meine Gefühle sind aus mir gespült und ich fühle nichts mehr. Besonders verheiratete Männer hatten es mir angetan. Ich wollte Ehen zerstören, wollte der Grund sein, warum sie ihre Frauen verlassen. Ich wollte es besser machen, ihnen zeigen, wie viel Spaß man mit mir haben kann, wie frei ich bin und wie langweilig ihre Beziehungen sind. Ich wusste nicht, ob ich wirklich lieben oder nur verletzen wollte, mein Ego aufpolieren oder Bestätigung suchte. Wollte sehen, was ich unserer Ehe verpasst habe und erkannte, nichts verpasst zu haben. Der Kick, die kurzen Momente der Zweisamkeit und der Sex glichen nicht im Geringsten die einsamen Stunden, Tage und Wochen aus. Ich fühlte mich ausgenutzt, wie ein Mensch zweiter Klasse, wenn der Mann meinen Duft in der Dusche abspülte, um rechtzeitig zum Abendbrot mit Frau und Kindern zu Hause zu sein. Für mich war nur Zeit, wenn keine Kegelabende, Sportveranstaltungen, Kinderaktivitäten oder Familienfeiern anstanden. Ich war die ‘Überstunden-Frau‘. Habe Liebesschwüren geglaubt und sie dennoch nicht ernst genommen. Habe die Panik und kein bisschen Liebe in den Augen der Männer gesehen, wenn ich androhte, alles zu verraten. Ich will nie wieder so sein. 

Das Schiff legt ab. Seit Jahren bin ich nicht mehr auf Borkum gewesen. Früher mit den Kindern, aber je größer sie wurden, desto uninteressanter wurde die Nordsee. Ich atme tief ein und aus, lasse den Wind durch meine Haare wehen. Ich rieche die See und ein Gefühl von Heimat durchströmt meinen Körper. Alles, was ich so verabscheut habe und vor dem ich geflohen bin, kommt mir nun so verlockend vor – die Ruhe, der Wind, die Weite und die Einsamkeit. Ich kann die kalten Tage kaum erwarten, an denen die Insel leer ist und ich stundenlang am Strand spazieren kann. In den letzten Jahren habe ich immer wieder von diesem Fleckchen Erde geträumt und mich an das Rauschen des Meeres erinnert, was mich schon mein ganzes Leben beruhigt hat. Ich sehne mich danach, in den Dünen zu liegen, stundenlang die Wolken zu beobachten und mir vorzustellen, wohin sie ziehen. Nemo sitzt im Katzenkäfig auf meinem Schoß. Er hat Angst vor den Motoren des Schiffes. Beruhigend streichle ich seinen Kopf. Er ist alt, die Reise stresst ihn, aber ich hoffe, dass wir noch eine schöne Zeit zusammen auf der Insel haben werden und er in seinen betagten Jahren vielleicht noch eine Maus in den Dünen fangen kann. Ich schließe die Augen und sehe meine Oma winkend am Hafen stehen. Sie trägt dasselbe Kleid wie an meinem Abschiedstag vor dreißig Jahren. 
„Du hast recht, irgendwann kommen alle zurück“, flüstere ich und bin mir sicher, dass sie es hört. 

Foto: me
© Katrin Seliger

Veröffentlicht im 2_impress_u Verlag in der Anthologie "Sehnsuchtsorte

Eine (alte) Liebe

Nicht schon wieder ein Oldtimer-Treffen!“ Andrea war müde und ihre Füße schmerzten. 
„Nur ganz kurz. Wir waren auch stundenlang auf dem Flohmarkt.“ Frank blickte auf die gefüllten Taschen an seinen Händen. 
„Ok, du hast gewonnen. Aber bitte nicht so lange!“ Als sie das Gelände betraten wusste Andrea, dass dies ein frommer Wunsch war. Franks Augen begannen zu glänzen. Sie nahm ihm die Tüten ab und gab ihm einen Kuss. 
„Geh ruhig schon vor. Ich suche mir einen Platz zum Ausruhen.“ Sie ergatterte einen freien Stuhl und bestellte Kaffee mit einem Stück Kuchen. Erleichtert schlüpfte Andrea aus ihren Schuhen und ließ den Blick über das Treiben schweifen. Käfer, Trucks und amerikanische Schlitten standen, auf Hochglanz poliert, in Reih und Glied. An einem Auto blieb ihr Blick hängen und ihr Herz machte einen Hüpfer. Ein orangefarbener Mercedes-Benz SL 280 Cabriolet. Wie lang hatte sie dieses Auto nicht mehr gesehen! 
Sie schloss die Augen und spürte die warme Sonne auf ihrem Gesicht. Jeden Samstag, wenn Opa das Auto wusch, lief sie die Straße herunter zu seiner Garage. Sie liebte es, ihrem Opa zu helfen und den Lack des Mercedes mit dem Schwamm zu säubern, bis er glänzte. Dabei sprachen sie über alles. Darüber, dass Mama und Papa immer stritten und über ihre Mitschüler, die oft gemein zu ihr waren. Dass sie immer noch nicht gut lesen konnte und es ihr schwer fiel, im Unterricht still zu sitzen. Opa hatte für alles Verständnis und hörte sich geduldig jedes Problem an. Sie saugte jeden Ratschlag von ihm auf. Über seine eigene Kindheit sprach Opa nicht gerne. „Wir waren im Krieg, Andrea. Es war zu schrecklich, um darüber zu reden. Du musst das nicht hören.“ Seine lieben Augen sahen furchtbar traurig aus. Nie wieder wollte sie ihren geliebten Opa so sehen, und fragte ihn kein einziges Mal mehr danach. 
Fast jeden Sonntag machten sie einen Ausflug, heraus aus der Stadt ins Grüne. Wenn das Wetter schön war, öffnete Opa das Autodach und der warme Fahrtwind wirbelte ihre roten Locken durcheinander. Sie spielten Chauffeur und feine Dame oder König und Königin. Sie liebte den Duft der glatten, kühlen Ledersitze. Wenn kein anderes Auto hinter ihnen war, drosselte Opa das Tempo, so dass sie aufstehen und in den Wind brüllen konnte. Das tat so gut! Oft wurden sie von anderen Ausflüglern angesprochen, das orangefarbene Cabriolet fiel auf. Manchmal wurden die beiden sogar fotografiert und sie fühlte sich wie ein Filmstar. 
Dann passierte es. Nie würde sie den Sonntag vergessen, an dem Opa sie zu einer Fahrt abholen wollte. Das Wetter war herrlich warm, sie hatte ein schickes Kleid und ihre neuen Sandalen angezogen. Ungeduldig wartete sie vor dem Fenster. Opa kam nie zu spät. Das Telefon klingelte und Mama begann zu weinen. Sie spürte, dass etwas Schlimmes passiert war. 

„Hey, du Schlafmütze!“ Frank riss seine Freundin mit einem Kuss aus den Gedanken. „Ist es sehr langweilig?“ 
„Nein, gar nicht.“ Andrea lächelte. „Lass dir ruhig Zeit.“ 

Foto: Pexels
 © Katrin Seliger

Betti ist die Größte

„Hey Betti! Hast du deine Brille vergessen?“ Ingo, der kleine Igel, lachte laut. 
Betti seufzte. Nur weil sie eine Blindschleiche war, bedeutete das nicht, dass sie nichts sehen konnte. Im Gegenteil, sie konnte sogar sehr gut sehen! Mama hatte ihr erklärt, dass der Name nichts mit ihren Augen, sondern mit ihrer Haut zu tun hatte. Aber das würde Ingo eh nicht verstehen. Traurig schlängelte Betti davon. Wenn Ingo sie ärgerte war es besser, ihn nicht weiter zu beachten. 
Plötzlich erstarrte sie. Maxi, der Marder, schlich auf leisen Pfoten und mit blitzenden Augen auf Ingo zu. Das Lachen des Igels verstummte und er rollte sich blitzschnell zu einer Kugel zusammen. Bettis Herz klopfte laut. Das würde nicht gut ausgehen. Sie musste Ingo helfen! Aber wie? Die kleine Echse hatte selbst große Angst vor Maxi und war viel zu schwach, um etwas gegen ihn ausrichten zu können. Da hatte sie eine Idee! So schnell sie konnte schlängelte Betti zurück zum Bau. Opa hielt gerade seinen Mittagsschlaf, sie musste also ganz leise sein. Erst neulich hatte er im Wald eine Lupe gefunden, die wahrscheinlich ein Kind dort vergessen hatte. Vorsichtig glitt sie an ihrem schnarchenden Opa vorbei und zog die Lupe mit dem Schwanz vom Nachttisch. Wenn es nur nicht schon zu spät war! 
Als Betti zurück kam, schnupperte Maxi an Ingos Stacheln und stupste ihn mit seiner Pfote. Der kleine Igel zitterte vor Angst. Betti stellte die Lupe auf die Seite und hielt sie mit dem Schwanzende fest. Wenn ihr Plan funktionierte, müsste Maxi sie durch das Vergrößerungsglas gleich riesengroß sehen. Sie holte tief Luft und fletschte die Zähne. „Zzzzsssscchhhhhhh...“ Der Marder erschrak so sehr, dass er einen Satz nach hinten machte und schnell wie der Wind zwischen den Tannen verschwand. Es hatte geklappt! 
„Ingo, du kannst wieder rauskommen! Er ist weg!“ Vorsichtig lugten zwei kleine Augen und eine Stupsnase aus der Stachelkugel. 
Du hast Maxi vertrieben?“ Ingos Augen weiteten sich vor Erstaunen. 
„Natürlich“, sagte Betti stolz. 
„Wie hast du das gemacht?“ 
„Warte, ich zeig es dir.“ Betti stellte die Lupe, genau wie eben, vor sich auf. Sie fletschte die Zähne und zischte wieder. „Du siehst wie eine echte Schlange aus!“ Ingo hüpfte vor Begeisterung auf und ab. „Darf ich auch mal?“ 
„Na, klar!“ Abwechselnd erschreckten sich die beiden mit wilden Grimassen. Als es dunkel wurde, war es Zeit, sich zu verabschieden. 
„Danke, dass du mir geholfen hast Betti. Das war wirklich sehr mutig von dir.“ 
„Das habe ich gerne getan.“ Die kleine Blindschleiche war etwas verlegen. „Spielen wir morgen wieder zusammen?“ „Natürlich“, sagte Ingo. „Wir sind doch jetzt Freunde!“

Foto: Marian  
© Katrin Seliger

Veröffentlicht im Pohlmann-Verlag in der Anthologie "Gemeinsam sind wir stark"


 

Osterhasen gibt es doch!

Hansi reckte und streckte sich und gähnte ungeniert. Die Nacht war kurz gewesen und je älter er wurde, desto mehr spürte er seine Glieder. Aber das war es ihm wert. Ab morgen konnte er sich für den Rest des Jahres ausruhen. Er spannte seine Hosenträger, zupfte sein Halstuch zurecht und putzte sich mit den Vorderpfoten die Ohren. 
Auch dieses Jahr war er für das Haus der Schneiders in der Blumengasse zuständig. Er mochte die kleine Familie – die Mutter Charlotte, Frieda und ganz besonders den kleinen Lukas. Zusammen mit dem Großvater trafen sie sich jedes Jahr nach dem Osterfrühstück im Garten. Hansi war froh, dass die Familie Ostern noch ganz traditionell feierte und es nicht nur darum ging, wer das neueste Handy oder die teuersten Sneaker bekam. Seinen jüngeren Kollegen war das egal, aber Hansi bestand auf Ostern, wie er es von der Pike auf gelernt hatte - Eier einfärben, Schokoladeneier verpacken und gute Verstecke ausfindig machen. All das hatte er in den letzten Wochen erledigt. Heute Morgen hatte er die Eier dann in seinem großen Korb auf dem Rücken hergetragen und im Garten versteckt. Dabei musste er höllisch aufpassen, dass ihn niemand sah. Die oberste Osterhasenregel besagte, sich niemals erwischen zu lassen. 
Das Tor quietschte und Frieda stürmte als Erste in den Garten. Sie konnte es nicht abwarten, mit der Suche zu beginnen. Das Wetter meinte es gut mit ihnen, die Sonne versprühte Frühlingswärme. Hansi wusste das sehr zu schätzen, er hatte seine Eier schon bei Regen, Sturm und im Schnee verstecken müssen. 
„Lukas! Luuuuukas!“ Friedas Ruf hallte bis zur Hecke, in der Hansi sich versteckt hielt. Wie immer wartete die Familie auf den Kleinsten, der so ganz anders als seine quirlige Schwester war. Plötzlich bemerkte Hansi einen Schatten, der auf die Hecke zukam. Das war Lukas! Mit schnellen Bewegungen schob der Junge Blätter und Zweige auseinander und zwängte sich durch das Gestrüpp. Noch ein Schritt, dann würde er in Hansis Korb treten. 
„Stop!“ rief der Hase und hielt sich sofort die Pfote vor die Schnauze. Lukas fiel vor Schreck auf den Hintern. Sekundenlang starrten sich beide an. 
“W-w-wer bist du?“ Vor Aufregung begann Lukas zu stottern. 
„Ich bin der Osterhase. Keine Angst, ich tue dir nichts“, flüsterte Hansi. 
„Du kannst sprechen?“ 
„Klar kann ich sprechen! Warum denn nicht?“ 
"Aber Tiere können nicht sprechen und eigentlich gibt es dich doch gar nicht!“ Frieda hatte ihm gesagt, dass Mama und Opa die Eier versteckten. 
„Natürlich gibt es uns Osterhasen, du siehst mich doch“. Er rückte seine Brille zurecht und reichte dem Jungen die Pfote. „Ich bin Hansi.“ 
„Ich heiße Lukas.“ Zögerlich nahm der Junge die Pfote. Sie war kuschelig warm und weich. 
„Ich weiß. Ich kenne alle Kinder, denen ich die Ostereier bringe. Genau wie der Weihnachtsmann.“ Stolz lies Hansi die Hosenträger an sein rundes Bäuchlein flippen. 
„Warst du denn letztes Jahr auch hier?“ „Na klar! Und ich habe gesehen, dass deine Schwester fast alle Eier gefunden hat. Das tut mir leid. Ich hatte sie gerecht verteilt.“ 
„Frieda ist immer schneller als ich. Dabei ist das ungerecht. Sie ist schon acht und ich bin erst fünf Jahre alt.“ Zur Bestätigung hob er seine Hand. 
„Mach dir nichts draus. Dieses Jahr helfe ich dir.” 
„Wirklich? Wie denn?“ Lukas wippte aufgeregt mit den Füßen. 
„Du musst nichts weiter tun, als aufmerksam zu sein und du wirst eine Menge Eier finden. Jetzt geh schnell zu den anderen, bevor sie ärgerlich werden. Ich kümmere mich um den Rest.“ Hansis Ohren wackelte. 
„Ok.“ Lukas nickte, zwängte sich durch Hecke und lief mit geröteten Wangen zu seiner Familie. 
„Na endlich!“ Frieda hatte ihre Hände in die Hüfte gestemmt und sah ihn böse an. „Wir warten!“ 
„Wo warst du? Hast du etwas ausgefressen?“ Mama zupfte ihm ein Blatt aus Haar. 
„Nein. Ganz bestimmt nicht.“ 
„Ist doch egal! Jetzt ist er ja hier.“ Opa tätschelte seinem Enkel liebevoll den Kopf. „Nehmt eure Körbe! Dann fangen wir an. Auf die Plätze…fertig…los!“ 
Sofort rannte Frieda zur großen Eiche. 
„Ich hab eins!“ Stolz hielt sie ein rotes Ei in die Höhe. Lukas nahm sein Körbchen und schlenderte los. Hansi hatte gesagt, er solle genau schauen, dann würde er auch etwas finden. 
„Hab eins!“ rief Frieda wieder. „Und noch eins!“ Na toll. Lukas Augen füllten sich mit Tränen. Genau wie letztes Jahr. Wo blieb Hansi? Er hatte doch gesagt, er würde ihm helfen? Im nächsten Moment sah er etwas im Gras glitzern. Ein wunderschönes, goldenes Ei lag genau vor seinen Füßen. „Ich hab auch eins!“ 
„Wo hast du das denn gefunden?“, rief Frieda ungläubig. 
„Hier.“ Lukas streckte seinen kleinen Finger auf den Boden. Mit dem Blick eines Jagdhundes suchte Frieda nun die Stelle ab. Lukas ging in die andere Richtung und fand ein weiteres Ei. Es glänzte silbern mit vielen bunten Punkten darauf. Hansi hatte sich wirklich Mühe gegeben! Da war noch eins! Ein blaues, das war seine Lieblingsfarbe. Nach einer Weile war sein Körbchen gut gefüllt. 
„Die sind wunderschön Lukas! Hast du die alle hier im Garten gefunden?“ Mama drehte sich zu Opa und zwinkerte ihm zu. „Ja, die sind wirklich toll, ich weiß nur nicht, wie…” Opa kratzte sich verwundert am Kopf. 
„Ich will auch solche! Warum habe ich die nicht gefunden?“
„Weil du nicht gut gesucht hast!“ Lukas konnte seinen Triumph über seine Schwester nicht verbergen. 
„Das ist ungerecht!“ Fridas Gesicht lief rot an und sie stürmte in das Baumhaus, in das sie sich meistens verzog, wenn sie schlechte Laune hatte. 
„Also, ich weiß beim besten Willen nicht, wo die herkommen“, flüsterte Opa. 
„Papa, ich glaube du brauchst einen Eierlikör. Frieda beruhigt sich schon wieder, du kennst sie doch.“ Charlotte hakte sich bei ihrem Vater unter und ging mit ihm ins Haus. 
Lukas kletterte die Treppe hoch zum Baumhaus. 
„Geh weg! Lass mich in Ruhe!“ rief Frieda.
„Hier.“ Versöhnlich reichte er seiner Schwester das goldene Ei. 
„Ich will das nicht. Kannst du behalten.“ Sie wischte sich die Tränen von der Wange. „Warum hast du alle schönen Eier gefunden? Opa ist gemein.“ 
„Die sind nicht von Opa“, flüsterte Lukas.
„Natürlich sind sie das. Du glaubst jawohl nicht, dass die vom Osterhasen sind!“ „Doch. Ich hab ihn gesehen.“ 
„Ja klar. Geh weg, du Baby.“ 
Lukas überlegte. Er wollte Hansi nicht verraten, aber er konnte Frieda einfach nicht traurig sehen. Und schon gar nicht wollte er, dass sie dachte, Opa wäre an allem schuld. 
„Komm, ich zeig dir was.“ 
„Was denn?“ 
„Ich zeig dir, wer die Eier gemacht hat.“ Frieda zögerte einen Augenblick, dann gewann ihre Neugier. 

Opa Fritz zog die Vorhänge für seinen Mittagsschlaf zu. Aus einem Eierlikör waren fünf geworden und er spürte eine angenehme Schläfrigkeit. Plötzlich sah er, wie seine beiden Enkel eine Tüte Möhren zur Hecke schleppten. Frieda schien nicht mehr sauer zu sein, zum Glück! Ihr Hitzkopf verrauchte meistens genau so schnell, wie er gekommen war. Aber was wollten die beiden jetzt mit dem Gemüse? Egal. Es würde schon nicht für den Osterhasen sein. 

Foto: me
© Katrin Seliger

Veröffentlicht im Papierfresserchens MTM-Verlag in der Anthologie "Wie aus dem Ei gepellt"

Alles was zählt

Als die Maschine den Landeanflug auf LAX ansetzt, breitet sich meine Enttäuschung wie ein Fächer aus. Dieses Gefühl wechselt sich seit Wochen mit Wut, Verzweiflung und Ohnmacht ab. Den Anblick Saschas zuckenden Hinterns zwischen Nadjas gespreizten Beinen werde ich wohl nie wieder aus meinem Kopf bekommen. Er hat mir alles genommen. Mein Vertrauen, meine Würde, meinen Stolz und meine beste Freundin. Ich bin so traurig, dass die beiden mich belogen und betrogen haben, aber ich weigere mich, auch nur eine Träne zuzulassen. 
Unseren lang ersehnten Kalifornien-Urlaub wollte ich mir nicht auch noch nehmen lassen. Nachdem ich Saschas Ticket zerrissen, und seine Koffer vor die Tür gestellt hatte, wollte ich nur noch weg. Doch Los Angeles sieht von oben aus, wie ich mich fühle. Platt, grau  und düster. 
Am Flughafen hole ich das reservierte Cabriolet ab und mache mich auf den Weg zum Motel. Eigentlich wollte Sascha diesen Part übernehmen und ich mir auf dem Beifahrersitz den Wind um die Nase wehen lassen. Stattdessen bekomme ich einen Schweißausbruch, als ich mich in den sechsspurigen Highway einreihe, auf dem gerade Rush Hour ist. Mit durchgeschwitztem T-Shirt und knallrotem Gesicht erreiche ich schließlich mein Motel. Ich bin völlig fertig, habe Hunger und pfeife darauf, den Jetlag auszutricksen. Ich will einfach nur noch schlafen und am liebsten nie mehr aufwachen. 
Zwei Tage bin ich nun schon in der Stadt der Engel, die ich fast komatös verschlafen habe. Heute fühle ich mich endlich einigermaßen fit. Los Angeles erscheint mir nicht mehr ganz so trist, die dunklen Wolken sind strahlend blauem Himmel und Sonnenschein gewichen. Ich beschließe, an den Venice Beach zu fahren. 
Die Atmosphäre nimmt mich dort sofort in Beschlag. Maler, Musiker und Sportler zeigen ihre Künste. Vor einer Musikerin mache ich halt. Sie singt Diamonds von Rihanna. Das ist unser Lied. Das war unser Lied. Sie singt es so viel Gefühl, dass ich einfach stehen bleiben muss. Ehe ich mich versehe, laufen mir Tränen übers Gesicht. Ich stehe an einem der schönsten Strände der Welt und heule wie ein kleines Kind. Ich kann einfach nicht aufhören, es ist, als ob alle Tränen, die ich bisher zurückgehalten habe, aus mir herausströmen. Als das Lied zu Ende ist, steht sie auf und reicht mir ein Taschentuch. 
„Hey, youre fine“? 
„Im sorry. Yes Im fine. It´s the song, your voice is incredible“, stammle ich im gebrochenen Englisch und schäme mich entsetzlich. 
“Hey, du kommst aus Deutschland?“ Sie erkennt meinen Akzent sofort.
"Ich komme aus Hamburg. Bist du auch Deutsche?“ 
„Ja, aber ich lebe schon länger nicht mehr dort. Ich bin Mary."
„Anna“, stelle ich mich vor und reiche ihr die Hand. 
„Hast du Lust, mir noch ein wenig zuzuhören? Ein bisschen bin ich noch hier. Aber dann können wir an den Strand gehen und quatschen. Ich freue mich immer, wenn ich mit jemandem aus der Heimat sprechen kann.“ Sie lächelt so herzlich, dass ich nicht widersprechen kann. Auch ich bin froh, mit jemandem reden zu können. 
Zwei Stunden später sitzen wir am Strand. Wir haben Kaffee und Donuts gekauft und lassen es uns gut gehen. Mary sieht in ihrem rotem Kleid einfach hinreißend aus. „Magst du mir erzählen, was mit dir los ist? Du siehst unendlich traurig aus.“ Wie auf Knopfdruck sprudeln die Tränen wieder aus mir heraus. Und ich beginne zu erzählen. Von Sascha, der mich hintergangen hat. Von Nadja. Von den Wochen, in denen ich apathisch im Bett lag und wie hypnotisiert auf mein Handy gestarrt habe, immer in der Hoffnung, ihn online zu sehen. Von den Nächten, in denen ich zu viel Wein getrunken und ihn hundertmal angerufen habe, nur um seine Stimme zu hören. Von meinem Job, den ich widerwillig, aber immer perfekt mache. Von meinem Gefühl, so vieles falsch gemacht und ausgenutzt worden zu sein. Ich kenne Mary erst seit ein paar Stunden, aber ich erzähle ihr einfach alles. Sie ist eine gute Zuhörerin, unterbricht mich nicht und reicht mir ein Taschentuch nach dem anderen. Als ich nach einer Stunde müde auf ihren Schoß sinke, fühle ich mich wie aufgeschlitzt. 
„Ich kann dich so gut verstehen,“ Mary streichelt meinen Rücken. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht mehr geliebt zu werden." Sie zündet sich eine Zigarette an, atmet den Rauch tief ein und aus. 
"Weißt du, warum ich hier hergezogen bin? Weil ich nicht mehr atmen konnte. Ich habe den ersten Mann, den ich kennen lernte, geheiratet. Ich hatte vorher nie einen Freund gehabt und habe gedacht, auch keinen anderen zu finden. Also habe ich ihn genommen. Wir bekamen schnell zwei Kinder und kauften ein Haus in seiner Heimat, einer katholischen Gegend. Ich habe geglaubt, alles perfekt machen zu müssen. Eine gute Mutter zu sein, eine super Hausfrau, eine geduldige Gesprächspartnerin und sexy Geliebte für meinen Mann. Aber das war ich nicht, das konnte ich nicht. Ich wusste doch noch gar nichts vom Leben. Im Grunde meines Herzens wollte ich immer nur Musik machen. Jan hat mir eingeredet, das sei nur Geklimper und singen könne ich auch nicht, für ihn zählten nur Geld und Erfolg. Ich bin depressiv geworden und konnte mich nicht mehr um meine Jungen kümmern. Dann habe ich auf eine Frau kennengelernt, in die ich mich verliebt habe., sie war Heilpraktikerin neu in den Ort gezogen. Sie war mein einziger Halt in dieser Zeit." Mary wischt sich eine Träne aus den Augenwinkel.
"Irgendwann habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten und habe meine Familie über Nacht verlassen. Jan hat mir das nie verziehen. Und meine Söhne auch nicht. Ich habe in all den Jahren kein Wort mehr mit ihnen gesprochen. Sie fehlen mir schrecklich.“ 
„Mary, das tut mir leid. Hast du denn versucht, Kontakt mit deinen Jungen aufzunehmen?“ 
„Natürlich! Ganz oft sogar. Ich habe ihnen geschrieben und auch SMS geschickt, aber es kam nichts zurück. Ich denke, mittlerweile haben sie ihre Nummern geändert oder neue Handys bekommen.“ Tränen laufen über ihre Wangen. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Ich vermisse sie so sehr. Ich vermute, dass mein Ex ihnen nichts Gutes über mich erzählt hat und ich will sie auch nicht drängen, verstehst du? Sie haben allen Grund, sauer auf mich zu sein. Vielleicht hassen sie mich sogar.“ 
„Aber du konntest damals nicht anders.  Hättest du eine andere Möglichkeit gesehen, wärst du bei ihnen geblieben. Ich glaube ganz sicher, jetzt würden sie dich verstehen. Wie lange bist du jetzt schon hier?“ 
„Drei Jahre.“ So zusammengesunken wie Mary da sitzt, erinnert sie mich an einen verlorenen, gebrochenen Vogel. Mein Herz schmerzt.
„Und wie alt sind deine Söhne jetzt?“ 
„16 und 12“, flüstert sie. 
Die Sonne über dem Pazifik geht unter, ein leichter Wind weht über unsere Haut. Wir kuscheln uns in die Decke, auf der wir bis jetzt saßen und starren auf den blutroten Horizont. Es ist verrückt. Ich kenne diese Frau erst seit ein paar Stunden, aber habe das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. „Was ist mit dir? Hast du Kinder?“  
„Nein, Sascha hat mich erfolgreich hingehalten. Und nun bin ich fast 40. Ich wollte nie eine alte Mutter sein. Irgendwie hoffe ich, dass er Nadja geschwängert hat. Am besten mit Drillingen", sage ich gehässig.
Mary lacht auf. „Was meinst du, wie schnell die Erotik dann flöten geht. Volle Windeln, durchwachte Nächte, schreien rund um die Uhr, tropfende Brüste - ein Traum!“ Jetzt muss auch ich lachen. Wir können gar nicht mehr aufhören und halten uns die Bäuche. Es ist so befreiend. Wir lachen, bis die Sonne hinter dem Ozean verschwindet. 
Ich ziehe bereits nach zwei Tagen in Marys kleine Wohnung. Tagsüber kellnert sie in einem Diner, abends singt sie am Strand. Fast immer setze ich mich dazu und lausche ihrer Stimme. Ich liebe, wie Mary ihre blonden Locken über die Schultern wirft und das strahlende Lachen in ihrem gebräunten Gesicht. Fast alle Leute, die an ihr vorbeigehen, bleiben stehen. Mary zieht Menschen auf sofort in ihren Bann. Man kann sie nicht beachten, sondern einfach nur lieben. 
Am Abend lade ich sie in ein Restaurant ein. Mary besteht darauf, dass ich umsonst bei ihr wohne und ich möchte mich revanchieren. Wir sitzen wieder am Venice Beach, essen Steak und trinken kalifornischen Rotwein. Wir reden und lachen, bis das Lokal schließt und wir höflich heraus gebeten werden. Arm in Arm laufen wir am Strand entlang zu ihrer Wohnung. 
„Danke für den schönen Abend. Ich hab jede Sekunde genossen.“ Ich sehe Mary tief in die Augen. Es kribbelt in meinem ganzen Körper, ich kann den Blick nicht von ihrem lösen. 
„Du bist wunderschön“, flüstert sie und ehe ich mich versehe, berühren ihre Lippen meine. Ihre Zunge dringt in meinen Mund. Eine Feuersalve durchfährt meinen Körper. Mir wird schwindelig, als ihre Hände meine Brüste berühren. Was tue ich hier? Mary führt mich auf ihr Bett und zieht mit geübtem Griff meinen Slip aus. „Entspann dich“, flüstert sie und versinkt zwischen meinen Beinen. Ich schließe die Augen und stöhne leise. Zärtlich legt sie sich neben mich und streichelt meinen Körper. Alles dreht sich. Ihre Hand wandert von meinem Busen über den Bauch zu meinen Schoß. Dann ich spüre iich sie in mir. Erst sanft, dann immer schneller. Ich bäume mich auf und erlebe eine explosive, nie da gewesene Erleichterung. 
Am nächsten Morgen wache ich mit bohrenden Kopfschmerzen auf. Sofort schießt mir die gestrige Nacht durch den Kopf. Wie konnte das passieren? Was habe ich getan? Ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen. So leise wie möglich stehe ich auf und schleiche mich ins Bad. 
„Hey, guten Morgen, bekomme ich keinen Kuss?“ Mary sieht auch kurz nach dem Aufwachen wunderschön aus. Ich schäme mich plötzlich, nackt und schutzlos vor ihr zu stehen. Gestern, umhüllt von der Dunkelheit und berauscht vom Wein, war das etwas anderes. Ich greife nach der Bettdecke. 
„Guten Morgen.“ Ich setze mich auf die Bettkante. „Hast du gut geschlafen?“ „Sehr gut sogar.“ Mary lächelt und umarmt mich. Sie spürt meinen angespannten Körper.
„Ist alles gut?“ 
„Ja, ich bin nur...ich weiß nicht...was ist da gestern passiert?“ 
„Wir hatten Sex. Und sogar sehr guten.“ Mary lacht und küsst meinen Nacken. „Aber ich bin doch gar nicht lesbisch!“, sprudelt es aus mir heraus. 
„Ist das wichtig?“ Mary sieht mich fragend an. „Wir mögen uns und hatten einen wunderschönen Abend, der traumhaft geendet ist. Das ist alles, was zählt.“ „Aber, wie geht es mit uns weiter?" 
 "Ich weiß, du bist nicht lesbisch, oder du wusstest bis jetzt nichts davon. Das ist in Ordnung, ich zwinge dich zu nichts. Ich mag dich wirklich sehr und fühle mich so geborgen bei dir. Lass uns das jetzt nicht zerreden.“ Sie nimmt mich in den Arm und küsst mich. Ich lasse mich fallen und genieße den Augenblick.
Die letzten drei Tage meines Urlaubs brechen an. Mary hat sich im Diner freigenommen und wir verbringen eine wunderschöne Zeit miteinander. Mit dem Mietwagen fahren wir Richtung San Francisco bis zum Big Sur. Die Natur und die Kraft des Pazifiks sind atemberaubend. Ich fühle mich so leicht und unbeschwert, wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Am Abreisetag bin ich unendlich traurig, meine neue Freundin und dieses tolle Land verlassen zu müssen. Ich weiß, zu Hause wird es mir schwer fallen, ohne ihre positive Energie und Lebenslust zurecht zukommen. Auch Mary ist traurig. Am Flughafen nimmt sie mich lange in den Arm. 
„Wir sehen uns wieder, Anna. Ganz bestimmt! Ich komme einfach zu dir!“ 
„Bist du verrückt? Ich komme natürlich wieder! In Hamburg regnet es doch nur.“ Ich lache gequält. 
„Sei nicht traurig. Du müsstest Sascha dankbar sein. Ohne ihn hätten wir uns nie kennengelernt und eine so intensive Zeit miteinander gehabt. Wir haben uns gefunden, das ist ein Geschenk! Wenn du zu Hause bist, sag ihm Danke für all die Tränen, die Wut und den Schmerz. Du brauchst ihn nicht mehr. Alles was du brauchst, ist in dir.“ 
„Was ist mit uns?“ 
„Ich gebe dir alle Zeit der Welt. Lass deine Wunden heilen und höre tief in dich. Ich weiß, wir sehen uns wieder.“ 
„Danke für alles Mary. Du bist ein Engel.“ Ich drücke sie, so fest ich kann und dann - küsse ich sie. Vor allen Leuten, mitten im Flughafen. 

Hamburg empfängt mich wie erwartet mit Dauerregen. Ich vermisse Mary, die Sonne und die Unbeschwertheit Kaliforniens schon jetzt. Als ich meinen Koffer die vier Stockwerke zu meiner Wohnung hochgezerrt habe, sehe ich einen Strauß Rosen vor der Tür. Ich ziehe die Karte aus dem Umschlag. 
Es tut mir so leid. Bitte melde dich, wenn du wieder da bist. Sascha.“ Meinen ersten Impuls, ihn sofort anzurufen unterdrücke ich, denn nach kurzer, aufflammender Freude über seine Geste, empfinde ich nur Leere. Nach diesen bunten, fröhlichen Wochen kann ich die Stille der Wohnung kaum ertragen. Zwei Tage habe ich noch frei und plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe und klappe den Laptop auf. Ich werde Marys Söhne finden.

Foto: Pexels
© Katrin Seliger

Veröffentlicht im Muc-Verlag in der Anthologie "Verzaubert- mein Herz schlägt queer"

 

Ohne ein Wort

Das Leben langweilte sie. Sogar mehr als das. Langweilen konnte man sich mal. Man saß einfach nur da und wartete, bis einem etwas einfiel oder Tag vorüber war. Dies war etwas anderes. Ihr Leben deprimierte sie und sie fühlte eine tiefe Leere in sich. 
Jeden Tag dieselben Abläufe, die gleichen Bewegungen und Handgriffe. Am Abend eine Flasche Wein und Trash-TV. Der nächste Morgen begann dann genau, wie der Letzte. 
Es fiel ihr immer schwerer aufzustehen. Wenn sie sich nach einem zähen Vormittag im Büro endlich zur ersehnten Mittagspause legte, konnte es passieren, dass sie gar nicht mehr aufstand. Nur die Jungs mit ihren Bedürfnissen hielten sie davon ab. Woher nahmen andere Frauen ihre Energie? Warum füllten ihre Kinder sie nicht aus? In der Schule waren sie gut und hatten eine Menge Freunde, spielten beide leidenschaftlich Fußball. Reichte das nicht? Warum machte das keine stolze Mutter aus ihr? Sie liebte beide, aber immer öfter wünschte sie sich, sie wären nicht da. Dann wäre sie die Last der Verantwortung los und müsste nicht jeden Tag alle Kraft aufbringen, eine gute Mutter zu sein. 
Sie überlegte, den Müll nach draußen zu bringen, entschied sich aber dagegen. Er lag schon seit Tagen dort. Stattdessen
schlug sie die Zeitung auf. Wieder war ein Amoklauf geschehen. Ein Familienvater hatte erst seine Tochter und dann seine Frau umgebracht. Sie hatte, vermutlich aus Geldsorgen, die Beziehung beendet. Nachdem er beide getötet hatte, war er ziellos durch Hamburg gestreift und hatte weiter um sich geschossen. Wie einfach es war, ein mühsam aufgebautes Leben auszulöschen. Alle Träume, Ziele und Pläne mit einem Schuss zu beenden. Die Vernunft sagte ihr diese Tat zu verurteilen, aber wenn sie ihre Moral beiseite schob, hatte sie Mitleid mit dem Täter. Sie konnte fühlen, wie es war, keinen Ausweg mehr zu sehen, keine Freude zu empfinden, keinen Sinn und keinen Lichtstrahl mehr zu spüren. Sie wusste wie es sich anfühlte, dem Druck, den das tägliche Leben ausübte, nicht mehr standhalten zu können. Und immer wieder die Angst, dass ihren eigenen Kindern etwas passieren konnte, sie durch einen Unfall oder einen anderen Grund von heute auf morgen aus dem Leben verschwinden könnten. Sie ging zum Schrank und griff zu den Tabletten. Kurz überlegte sie, keine zu nehmen und stattdessen zur Nachbarin zu gehen, um über belanglose Sachen zu plauschen. Einfach nur, um die düsteren Gedanken für kurze Zeit zu unterbrechen. Sie entschied sich dagegen. Es war ihr zu anstrengend. Gossip aus der Nachbarschaft, Thermonixrezepte und Ideen für das nächste Fußballfest machten sie nur noch müder. Sie war schon lange nicht mehr in die Gemeinschaft integriert. Zu oft hatte sie Tupperabende und Schmuckpartys abgesagt, zu wenige Sonntage am Fußballfeld verbracht. Die Sinnlosigkeit überrollte sie mit voller Wucht. Wer war sie? Warum war sie hier? Sie wusste, dass sie etwas gegen die Depression machen musste. Die Ärztin hatte ihr empfohlen, eine mehrwöchige Reha zu machen, aber dazu konnte sie sich nicht durchringen. Was würde es bringen? Was hatten ihr die letzten Aufenthalte gebracht? Wer würde sich um alles kümmern? Gerade jetzt, wo irgendetwas mit Simon, ihrem ältesten Sohn, nicht stimmte. Sie musste ihn im Auge behalten. Auf Frank war kein Verlass, er bemerkte vieles nicht, außerdem war er zu wenig da. War glücklich, wenn er ihr entfliehen konnte. Schon lange glaubte sie nicht mehr an seine Überstunden. Wirklich verübeln konnte sie ihm eine eventuellen Affäre nicht. Von der Frau, die er vor 15 Jahren geheiratet hatte, war nichts mehr da und sie war viel zu müde, um einen möglichen Seitensprung aufzudecken. 
Sie ging zum Kaminsims und nahm das Foto von Judith und sich. Das Bild war vor zwei Jahren auf Korfu entstanden. Selten hatte sie ihre Freundin so glücklich und entspannt gesehen. Es war die schönste Woche seit ihrer Hochzeitsreise gewesen. Die beiden hatten nächtelang getanzt, Wein getrunken, gelacht und jeden einzelnen Sonnenstrahl genossen. Ein Zufall hatte sie vor Jahren zusammengeführt. Schnell hatten sie die gleichen Interessen gehabt und sich blind verstanden. Sie hatte Judith bewundert. Ihre Freundin war eine taffe, selbstbewusste Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand. Und dann passierte das, wovor Judith immer Angst gehabt hatte. Brustkrebs. Sie hatte versucht, Judith beizustehen, ging mit ihr zu Ärzten, durchsuchte nächtelang das Internet, recherchierte nach Therapien und Kliniken. Es war zu spät. Vier Monate später warf Judith sich vor den Zug. Ohne ein Wort. Ohne Abschied. Sie hatte nicht gewusst, wie schlecht es ihrer besten Freundin wirklich ging. Aber wer, wenn nicht sie, hätte das bemerken müssen? Liebevoll streichelte sie Judiths strahlendes Gesicht. Ich brauche dich. Ich brauche deinen Rat, deine warme Hand, dein Lachen. Warum hatte ihr dieses beschissene Leben noch nicht einmal den einzigen Menschen, dem sie vertraute und der sie wirklich kannte, gelassen? Sie zog ein Buch aus dem Regal. Lebensratgeber. Vor Jahren, als sie noch Kraft und so etwas wie einen Willen hatte, schrieb sie Tagebücher mit Vorsätzen, Listen und Ermutigungen voll. Alles hielt nur von kurzer Dauer und die kleine Flamme der Hoffnung erlosch genauso schnell, wie sie entstanden war. Sie zog ein zweites Buch aus dem Schrank, dann ein drittes. Ließ eins nach dem anderen fallen, bis das ganze Regal leergeräumt war. Das war ihr Leben. Ein Haufen nicht umgesetzter Wünsche. Sie war nicht fähig, Pläne umzusetzen und sich an dem zu freuen, was sie bereits hatte. Eine Familie, ein Haus, ein Job. Alles erschien ihr nur als Last. Warum konnte sie nicht glücklich werden, warum reichte ihr das Leben, das sie hatte, nicht? Warum war sie für alles zu müde? Warum begeisterte sie nichts mehr? Sie beschloss, zum Bahnhof zu gehen. Hier fühlte sie sich ihrer Freundin näher als auf dem Friedhof. Sie setzte sich auf die Bank und sah auf die Anzeige. 10:42 Uhr. In 7 min würde der ICE nach Hamburg durchfahren. Genau diesen Zug hatte ihre Freundin gewählt. Sie wusste, viele taten es als Spinnerei ab, aber an dem Tag an dem Judith starb, kurz vor elf, saß sie im Büro und spürte eine Eiseskälte in sich. Damals konnte sie nicht einordnen, woher diese Kälte kam, die ihr Herz für Sekunden so fest umklammerte, dass ihr die Luft wegblieb. Später wusste sie es. Sie hatte Judiths Tod gespürt. Sie sah auf die schimmernden Gleise. Sie musste nur einmal mutig sein. Nur einmal wirklich entschlossen sein. Dann war alles vorbei. Die Jungen würden traurig sein, aber irgendwann würden sie es verstehen. Sie brauchten eine starke Mutter. Und Frank? Vielleicht wäre er sogar froh, wenn sie weg war. Wenn er die Chance auf ein unbeschwertes Leben wieder bekäme. Mit langsamen Schritten ging sie auf den Bahnsteig, trat über die Linie, die sie als Kind so gefürchtet hatte. Gleich würde der Zug kommen. Sie musste einfach stehenbleiben und im richtigen Moment springen. Ihre Beine zitterten und sie spürte, wie Schweiß in ihrem Nacken ausbrach. 
„Hey, bist du nicht die Mama von Simon?“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du stehst verdammt nah am Gleis, merkst du das nicht?“ 
Sie blinzelte in das Gesicht der Frau, die ihr gegenüber stand. 
„Ich bin Claudia, wir haben uns letzte Woche auf dem Elternabend gesehen. Wir sind die Neuen.“ 
„Ja, natürlich…“ Sie konnte sich nicht erinnern, die Frau letzte Woche schon einmal gesehen zu haben. 
„Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist ganz blass.“ 
„Ja, ist nur der Kreislauf. Alles gut.“ 
„Soll ich dich mit nach Hause nehmen?“ „Nein, ich hole noch jemanden ab. Aber danke.“ 
„Ok, ich muss jetzt los. Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Deine Söhne spielen auch Fußball, oder?“ 

Der Zug nach Hamburg rauschte an ihr vorbei. 

Foto: Pexels
Ⓒ Katrin Seliger
 

"Ihr Rehlein kommet"

Ludger hatte ein für alle mal die Nase voll. Seit Wochen machte seine Frau ihn mit Wünschen, Vorbereitungen und Putzorgien fast verrückt. Herr Gott, es waren nur ein paar freie Tage, mehr bedeutete ihm Weihnachten nicht. Das war nicht immer so gewesen. Als Kind hatte er dieses Fest geliebt. Gemeinsam mit seinem Vater war er durch die Wälder gestreift um den schönsten Baum zu schlagen, den sie anschließend mit der Mutter liebevoll schmückten. Das Haus roch nach Keksen und Braten, Weihnachtslieder klangen leise durch die Stube und vor dem Fenster fielen dicke Schneeflocken auf die Erde. 
Das war einmal. Nun empfingen ihn ein steriles Haus, das jedem OP Konkurrenz machen konnte, ein lila-gold geschmückter Baum und seine Frau Inge, die sich schon seit Wochen Gedanken um das Weihnachtsmenü machte. 
Dieses Jahr sollte es Reh geben. Seine einzige vorweihnachtliche Aufgabe bestand darin, den besten Rehrücken der Stadt zu besorgen. Inge hatte lange überlegt, bei welchem Schlachter sie das Fleisch bestellen sollte. Metzger Meyer war zu teuer, Metzger Stellings Waren besaßen keine Qualität, die Fleischerei Rosenau war gut, gehörte aber dem Mann ihrer ehemaligen Klassenkameradin, die sie nicht leiden konnte und in dessen Geschäft sie kein Geld werfen wollte. Schließlich hatte sie sich für die Schlachterei Mettmann in der Innenstadt entschieden, von der Ludger nun den bestellten Rehrücken abholen sollte. Schlecht gelaunt lief er durch die Straßen. Von Ruhe und Besinnung war an diesem 24. Dezember nichts zu spüren. Die Leute hetzten durch die Geschäfte um noch Geschenke zu besorgen, die kein Mensch brauchte und die nach Weihnachten sowieso wieder umgetauscht wurden. Plötzlich stieg ihm der Geruch von gebrannten Mandeln in die Nase. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, steuerte er auf den Weihnachtsmarkt zu. Beim Anblick der verschiedenen Stände lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Inge hatte ihn zwar auf Diät gesetzt, aber eine kleine Tüte Mandeln würde wohl in Ordnung sein, er brauchte jetzt dringend eine Pause. Die Bude empfing ihn mit herrlichen Süßigkeiten, er konnte sich an den glasierten Äpfeln und Schokofrüchten, dem Nougatkonfekt und den niedlich verzierten Lebkuchenherzen nicht satt sehen. Augenblicklich fühlte er sich wieder wie ein kleiner Junge. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen! Eigentlich hatte er auch jetzt nicht viel Zeit, die Schlachterei würde bald schließen, aber da er schon mal hier war, wäre es eine Sünde, einfach weiterzugehen. An dem Bratwurststand nebenan schlug ihm wohlige Wärme entgegen, er bestellte sich zwei Würste im Brötchen und seufzte vor Glück, als das Fleisch in seinen Magen rutschte. Die bunten Lichter auf dem Markt und die schön geschmückten Holzbuden ließen ihn endlich ein wenig in Weihnachtsstimmung kommen. An einem Stand mit handgefertigten Wachskerzen suchte er eine besonders hübsche für seine Frau und eine etwas größere für seine Mutter aus. Nun wurde es aber Zeit! Vor der Glühweinbude hatte sich eine Menschentraube gebildet. Energisch bahnte er sich einen Weg durch die Menge, als er mitten im Getümmel plötzlich seinen alten Kumpel Rudi entdeckte. Mit lautem Gejohle fielen sich die beiden um den Hals. Rudi, der schon eine ganz rote Nase hatte, bestellte gleich eine neue Runde Punsch. Ludger freute sich über das zufällige Treffen und trank seinen Becher mit Genuss. Aus einer Runde wurden zwei, dann vier und wenn nicht plötzlich sein Handy geklingelt hätte, wären es wahrscheinlich noch mehr geworden. 
“Ludger wo steckst du? Hast du das Fleisch? Ich warte auf dich!“ 
Verdammt! Der Rehrücken! „Ja, natürlich Liebes, alles erledigt! Ich bin gleich da!“ Hastig verabschiedete er sich von Rudi, der ihn verständnislos ansah und lief los. Beim Blick auf die Uhr erschrak er. Es war bereits kurz vor vier, die Geschäfte machten jede Minute zu. Wie hatte er nur so die Zeit vergessen können? In Höchstgeschwindigkeit rannte er zum Metzger Mettmann, aber schon von weitem sah er, dass der Laden bereits dunkel war. Verzweifelt rüttelte und klopfte er an der Ladentür, aber es half nichts. Niemand öffnete. Er war einfach zu spät. Inge hatte ihm nur diese eine Aufgabe anvertraut und er hatte es vermasselt. Das würde sie ihm nie verzeihen. Weihnachten ohne Braten, das war einfach unvorstellbar. Er konnte nichts anderes tun, als nach Hause zu fahren und alles zu beichten. Vielleicht hatte Inge ja noch ein wenig Geflügel in der Truhe? Reh oder Huhn, im Grunde war das doch egal. Wütend über sein Missgeschick und das bevorstehende Donnerwetter drückte er aufs Gaspedal. Die glänzende Schneeschicht auf dem Asphalt ignorierte er und fuhr viel schneller als erlaubt. Im letzten Moment sah er etwas Dunkles auf die Straße rennen, dann knallte es.

„Liebes! Ich bin da!“ Fröhlich pfeifend schloss Ludger die Haustür auf. 
„Das wurde aber auch Zeit! Wo warst ...?“ Inge stieß einen spitzen Schrei aus und presste die Hand auf den Mund, als er in die Küche kam. 
„Ich hab deinen Braten besorgt!“ Mit einem Rums ließ er das tote Reh von seiner Schulter auf den Tisch fallen. „Frischer geht ́s nicht, liebe Inge!“ 

Ludger verbrachte die die nächsten Tage und auch den Jahreswechsel bei seinem Kumpel Rudi. Inge hatte ihn bis auf Weiteres aus ihrem Leben verband. Und wenn er ehrlich war, hatte er Weihnachten seit Jahren nicht mehr so entspannt verbracht. Trotzdem würde er ihr morgen einen Blumenstrauß schicken und um Verzeihung bitten. Er vermisste sie sehr. Und dieses Jahr würde er alles besser machen.

Foto: Pexels 
Ⓒ Katrin Seliger

Veröffentlicht im Pohlmann_Verlag in der Anthologie "Die Magie der Weihnachtsmärkte"

Let´s shark!

„Verdammter Bodensee!“ Missmutig stapfte Leonie hinter ihren Eltern zum Liegeplatz. Das war definitiv das letzte Mal, dass sie mit ihrer Familie Urlaub machte. Wer fuhr schon nach Lindau? Das war so uncool! Ihre Freundinnen verbrachten die Ferien an viel schöneren Orten. Sina war mit ihren Eltern auf Mallorca und Finja mit einer Jugendgruppe in Kroatien. Das hatten Leonies Eltern verboten, und sie auf nächstes Jahr vertröstet. Na hoffentlich! In diesem Renterparadies würde sie sich die nächste Woche jedenfalls zu Tode langweilen.

Sonne, 30 Grad und strahlend blauer Himmel hoben ihre Laune jedoch ein wenig. Leonie zückte ihr Handy. Ihre Bilder konnten bestimmt nicht mit den Partyaufnahmen ihrer Freundinnen mithalten, aber ihr Instagram-Account wollte mit News gefüttert werden. 
„Bin ein paar Fotos machen“, rief sie ihren Eltern zu, die bereits auf Handtüchern in der Sonne lagen. Sie nickten kurz, die Entspannungsphase der beiden hatte bereits eingesetzt. Schnell nahm Leonie ihre Brille von der Nase und legte sie in die Tasche. Ihre Mutter konnte es nicht leiden, wenn sie ohne unterwegs war, aber für die Fotos brauchte sie das nervige Ding nicht. Leonie fand sich ohne Brille sowieso viel hübscher. 
Sie setzte einen Fuß ins Wasser. Himmel, war das kalt! Egal, für eine gute Aufnahme musste sie die Zähne zusammenbeißen. Sie watete bis zum Bauchnabel ins Wasser, posierte wie ein Topmodel und schoss ein Selfie nach dem anderen. Gar nicht so übel, dachte sie, als sie das Ergebnis sah. Der Selfiestick und die Optik von oben ließen Leonie richtig gut aussehen. Beim nächsten Bild schob sie ihren Po noch ein wenig weiter nach hinten und formte die Lippen zum Kussmund. Sie überarbeitete das Foto mit ein paar Filtern und betrachtete ihr Werk. Perfekt! Grade als sie es hochladen wollte, sah sie etwas im Hintergrund des Bildes. Leonie kniff die Augen zusammen. Das sah aus wie eine Flosse! Blitzschnell drehte sie sich um. Das Wasser war spiegelglatt, nichts war zu sehen. Komisch. Sie hielt sich ein Auge zu, um mit dem anderen das Bild besser fokussieren zu können. Doch, das war eindeutig eine Haiflosse! Zwar eine kleine, vielleicht von einem Babyhai? Die hatte sie mal im Fernsehen gesehen. Wie war der nur hierhergekommen? Hatte ihn irgendjemand ausgesetzt? Auf jeden Fall war das eine Sensation! Vor ihrem inneren Auge sah sie die Schlagzeile schon auf Bild-Online: "Jugendliche entdeckt Hai im Bodensee!" Hah, da konnten ihre Freundinnen einpacken. Sie musste unbedingt noch ein Bild bekommen. Angestrengt sah sie aufs Wasser und tatsächlich – dort hinten tauchte die Flosse wieder auf. So schnell sie konnte drückte sie auf den Auslöser und watete zurück zum Ufer. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Jungen auf sich zukommen. Typ Surferboy. Der sah verdammt gut aus, jedenfalls soweit sie es ohne Brille erkennen konnte. 
„Hi!“ Leonie warf die Haare zurück und schob ihre Hüfte ein wenig zur Seite. „Salli, wie isches a so?“ Der Junge stoppte und grinste sie an. 
„Mir geht’s gut.“ Ein bisschen schwäbisch verstand sie schon. Sie blickte zum Wasser und sah ihn verschwörerisch an. „Du glaubst es nicht, aber ich hab grad einen Hai gesehen.“ 
„A Hai? Im Bodesee? Aba sicha!“ Sein Grinsen wurde so breit, dass seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen. Leonie ärgerte sich sofort, dass sie ihn eingeweiht hatte. Er war der Typ, der erst lachen, aber später die Lorbeeren für sich einheimsen würde. 
„Wenn ich es dir doch sage. Hier, ich hab ihn auf dem Handy.“ Noch bevor sie ihm das Foto zeigen konnte, sah sie eine Bewegung Wasser. 
„Da ist er wieder! Sieh doch, da ist die Flosse!“ 
„Dees? Schwätz do koin Schmarrn! Bisch voll?“ 
„Aber warum, wieso, na klar ist das…“ Die Haiflosse verschwand und eine Sekunde später tauchte stattdessen ein Mann auf, den sie irgendwo schon mal gesehen hatte. Leonie kniff die Augen zusammen. War das etwa…? 
„Dees isch de Ingolf Lügg, du Dussel!“ Der Junge bog sich vor Lachen. „Der übd Rüggeschwimme für irgenoi Pro siwwe Evend. Hesch du koi Inderned? Dees weis do ganz Lindau, dess der grad doo isch.“ Leonies Gesicht färbte sich dunkelrot. So schnell sie konnte lief sie zu ihrem Handtuch zurück. Sie hörte den Jungen noch in einiger Entfernung lachen und war sicher, er würde Ingolf Lück von ihrem Versehen erzählen, sobald er aus dem Wasser kam. So ein Idiot! 
Am Platz angekommen setzte sie ihre Brille auf und sah sich das Foto nochmal an. Ihr Magen zog sich zusammen. Wie peinlich! Wie hatte sie sich nur so täuschen können? Sie hatte Ingolf Lücks Nase tatsächlich mit einer Haiflosse verwechselt! 
„Leonie, da bist du ja wieder!“ Ihre Mutter blickte aufgeregt zu ihr herüber. „Weißt du, was wir gerade gehört haben? Der Ingolf Lück soll hier sein. Du weißt schon, der von Let´s Dance! Ist das nicht aufregend?"
Leonie zog das Handtuch über ihren Kopf und beschloss, es für den Rest des Tages dort zu Lassen.

Foto: Pexels
Ⓒ Katrin Seliger 

 

Unterwasserliebe

Verdammt!“ Gerade als Marie ihr Auto vor dem Schwimmbad parkte, entluden sich die grauen Wolken über der Stadt mit einem gewaltigen Regenguss. Der November machte seinem Ruf alle Ehre. Schnell schloss sie ihr Auto und lief zum Eingang. 
Wohlige Wärme und der typische Chlorgeruch empfingen sie. Das alte Unibad war schon sehr in die Jahre gekommen und hatte eine Renovierung dringend nötig, aber dafür suchte man hier vergeblich nach kreischenden Kindern mit riesigen Reifen, die einem das Schwimmen unmöglich machten. Als sie die Umkleidekabine betrat, stach ihr sofort der Zettel an ihrem Spind ins Auge. Offiziell war die Nummer 201 natürlich nicht ihr Eigentum, aber unter den Stammschwimmern am Abend hatte sich eine Routine in der Benutzung der Schränke eingeschlichen, so wie man sich auch in der Mensa immer wieder auf denselben Stuhl setzte, ohne dass er einem gehörte.
„ICH WERDE DIR NIEMALS VERGEBEN“ stand in fett ausgedruckten Buchstaben auf dem Papier. Marie seufzte. Stefan würde es nie kapieren. Seit einem Jahr waren die beiden nun schon getrennt, seit drei Monaten hatte sie sogar einen neuen Freund, aber noch nicht einmal das schreckte ihren Ex ab, ihr immer wieder nachzustellen. Liebesschwüre, Anklagen und wehleidiges Gejammer verfolgten Marie seit der Trennung regelmäßig.„Akzeptiere es endlich und lass den Scheiß! Es nervt!“ Sie fotografierte den Zettel und schickte das Bild samt Text an Stefan. Bis jetzt hatte Marie sein Verhalten stillschweigend toleriert, aber nun war ihre Geduld am Ende. Verärgert steckte sie das Handy in die Tasche und begann, sich umzuziehen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Blitzartig sah sie sich um. Niemand außer ihr war im Raum. Dabei hätte sie schwören können, dass jemand hinein gekommen war. Schnell huschte sie in ihren Badeanzug, band sich einen Zopf und nahm ihre Schwimmbrille. In der Dusche drehte sie den Hahn auf und ließ das kalte Wasser über ihren Kopf laufen. Plötzlich versiegte der Strahl und die Leuchtröhren an der Decke begannen zu flackern. Gleichzeitig bewegte sich die Türklinke knarzend auf und ab, als ob jemand unentschlossen war, hinein zu kommen. Maries Herz begann gegen ihre Brust zu hämmern.„Hallo? Ist da jemand?“ Sie legte das Handtuch um den fröstelnden Körper, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Kein Mensch war zu sehen. Merkwürdig. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? Oder erlaubte sich jemand einen Scherz mit ihr? Ein Schauer lief über ihren Rücken. Einen Moment überlegte sie, wieder kehrt zu machen, aber dann stellte sie erleichtert fest, dass außer ihr noch zwei andere Schwimmer im Becken waren. Michael, der wie sie fast jeden Abend kam und eine Frau, die sie nicht kannte. Es beruhigte Marie, dass sie nicht allein war. Sie holte tief Luft und sprang mit dem Kopf voran ins Wasser. In schnellen Zügen schwamm sie eine Bahn nach der anderen. Sie war so in ihrem Element, dass sie gar nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verging. Als sie eine Pause machte, sah sie, dass die beiden anderen bereits gegangen waren. Sofort beschlich Marie ein mulmiges Gefühl. Noch vier Bahnen, dann gehe ich. Als sie in der Mitte des Beckens angekommen war, erlosch plötzlich im ganzen Schwimmbad das Licht. 
„Hallo? Hey, was soll das? Ist hier jemand?" Wo war eigentlich der verdammte Bademeister? Das reichte. Sie musste sofort hier raus! Etwas, das sich wie ein Fisch anfühlte, streifte ihren Fuss. Marie schrie auf und schwamm, so schnell sie konnte, zum Beckenrand. Kurz bevor sie die Leiter erreichte, packte eine Hand ihren Knöchel und zog sie herunter. Marie versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu lösen, aber der Griff war eisern und viel zu stark. Panisch strampelnd gelang es ihr, noch einmal an die Oberfläche zu kommen. Gierig schnappte sie nach Luft, dann wurde sie wieder in die Tiefe gerissen.

Hannoversche Allgemeine

Mordfall Marie K. immer noch ungelöst
Hannover - Auch ein Jahr nach dem brutalen Mord an der Studentin Marie K., die am 20.11.2014 im Schwimmbad der Leibniz Universität ermordet wurde, gibt es immer noch keine konkreten Hinweise. Der Fall wirft bis heute Fragen auf. Der Ex-Freund des Opfers, Stefan R., konnte als Tatverdächtiger ausgeschlossen werden. Zwar hatte er Marie K. Monate vor ihrem Tod immer wieder mit Nachrichten und Anrufen belästigt, jedoch war er zur Tatzeit mit einer Gruppe von Freunden im Urlaub. Der zweite Tatverdächtige, der Schwimmmeister, versuchte zum Zeitpunkt des Todes im Technikraum des Schwimmbades den Strom wieder anzuschalten, der kurz vor der Tat von einem Unbekannten abgestellt wurde. Wer den mysteriösen Zettel mit einer Drohung an den Umkleideschrank der Studentin hängte und sie ermordete, ist bis heute ungeklärt. Auch Badegäste, die kurz vor der Tat noch im Schwimmbad waren, konnten bislang nichts zur Klärung des Verbrechens beitragen. 

Unterwasserliebe.

Foto: Ionos
Ⓒ Katrin Seliger
 

Waidmannsheil

Jan Sieger seufzte, als er den Klebezettel an seiner Windschutzscheibe sah. Tausendmal hatte ihr gesagt, sie solle ihm per SMS schreiben, aber sie war altmodisch und romantisch zugleich, und bestückte seine Frontscheibe immer wieder mit diesen Dingern. Das war viel zu auffällig! Er hatte sowieso keine große Lust mehr auf sie. Sicher, der Sex mit ihr war großartig, er hatte nie etwas Vergleichbares erlebt. Aber ihre wechselnden Launen wurden ihm langsam zu anstrengend und standen nicht annähernd im Verhältnis zu ein paar Minuten Ekstase. Irgendwann würde er die Beziehung beenden müssen. Aber nicht heute. Die Einladung auf dem gelben Zettel war zu verlockend. 
Seit Monaten besaß er einen Schlüssel zu ihrem Haus. Wie ihr Vater war sie passionierte Jägerin. Seit seinem Tod vor einigen Jahren wohnte sie allein in dem einsamen Forsthaus. 
„Hallo?“ Mit einem Klick öffnete er die Tür. „Ich bin da!“ Kein Laut war zu hören. Er fröstelte. Irgendwo stand ein Fenster offen und ließ kalte Luft in den Flur wehen. „Hallo! Susanne, ich bins!“ Ein Hauch von Sorge schwang seinem Ruf mit. Wo konnte sie nur stecken? Sonst empfing sie ihn immer strahlend und mit einem leckeren Essen. Er holte sein Iphone aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Ihr Handy vibrierte blinkend auf der Kommode. Typisch! Langsam wurde er sauer. Sie wusste genau, dass er nicht viel Zeit hatte, In zwei Stunden musste er wieder zu Hause sein, seine Frau hatte die Nachbarn eingeladen. Zum Warten war er nicht geboren und er hasste nichts mehr, als irgendwo umsonst hingefahren zu sein. Als er in der Kommodenschublade nach Stift und Zettel suchte, um ihr eine Nachricht zu hinterlassen, hörte er ein Klirren. Es kam aus dem Raum hinter der Küche. Dort befand sich die Garage, die Susanne zum Ausweiden ihrer Jagdbeute nutzte. Sein Herz klopfte, als er die Tür öffnete. Er mied diesen Raum, die ganzen Messer und die ausgestopften Tiere, die mit leeren Augen von der Wand glotzten, widerten ihn an. 
„Liebling! Da bist du ja! Ich habe dich gar nicht gehört!“ Jan stockte der Atem. Susanne stand nackt vor dem Tisch, auf dem ein totes Reh lag. Mit geübten Bewegungen stieß sie in den Bauch des Tieres. „Ich wollte nur noch schnell das Reh zerkleinern, morgen mache ich Ragout.“ Ihre Hände, Arme und Brüste waren mit Blut beschmiert. 
„Warum, um alles in der Welt, machst du das nackt?“ Jan blickte seine Geliebte fassungslos an. 
Mit funkelnden Augen kam sie lächelnd auf ihn zu. „Du siehst ja, was das für eine Schweinerei macht. So spare ich mir eine Wäsche. Außerdem dachte ich, du magst mich so am liebsten?“ 
Jan spürte, wie sich trotz des skurrilen Anblickes seine Hose beulte. Verdammt, sie machte ihn einfach verrückt! Würde Anja so vor ihm stehen, würde er einen Lachanfall bekommen, aber an ihr war einfach alles sexy. Er begehrte diese Frau wie keine andere auf der Welt. Sanft berührte er ihre prallen Brüste. 
„Komm.“ Sie nahm seine Hand und drückte ihn auf den Tisch. 
„Sanne, hier ist alles voller Blut, wir sollten lieber...“ 
„Psst. Keine Widerrede“. Flüsternd legte sie einen Finger auf seinen Mund und öffnete mit der anderen Hand sein Hemd. Jan stöhnte, als sich ihre Lippen den Weg vom Hals bis zum Bauch bahnten. 
„Liebst du mich?“ fragte sie, als sie seinen Gürtel öffnete. 
„Oh ja, aber ich habe nicht mehr soviel Zeit, ich...“ Ein stechender Schmerz durchfuhr seine rechte Seite. Es dauerte eine Sekunde, bis er begriff, dass sie ihm ein Messer in den Oberarm gerammt hatte. Ungläubig starrte er sie an. 
„Was...?“ 
„Du sollst nicht lügen! Ich weiß, dass du mich nicht liebst. Ich habe die Nase voll von deinen Lügen.“ Susannes Augen blitzten, ihre Stimme war nicht mehr dieselbe. So hart und voller Groll hatte er sie noch nie gehört. 
„Immer geht es nur um deine Frau, es geht nur um ihr Wohl! Anja hier, Anja da. Ich will das nicht mehr!“ Mit voller Wucht rammte sie ihm ein weiteres Messer in den anderen Arm. Jan schrie vor Schmerz. „Schrei nur, mein Liebling, hier hört dich keiner.“ Sie nahm ein Tranchiermesser vom Tisch und ritzte es in seine Wange. Blut quoll aus der Wunde. 
„Das ist für deine leeren Versprechungen. Deine Worte, die nichts bedeuten. Dafür, dass du mich ausnutzt hast und ich dir geglaubt habe.“ 
„Hör auf, bitte! Ich verspreche dir, ich...!“ Jan keuchte, sein Körper war schweißüberströmt. Mit einem Schnitt schlitzte sie seine Brust auf. Er schrie markerschütternd. 
„Das ist für die einsamen Stunden. Für die Nächte, in denen ich es ohne dich kaum aushalten konnte. Für all die verlorenen Tage, die mich hast warten lassen.“ Mit einem Schwall entleerte sich seine Blase. Angeekelt blickte Susanne auf die Pfütze. „Hast du wirklich geglaubt, du kannst alles haben? Nur weil dich deine Frau im Bett  langweilt, kannst du dich ungestraft bei mir austoben?“ Mit einem Ruck zog sie seine Hose nach unten. Der Stahl in ihrer Hand blitzte. 
„Du hast es gleich geschafft, Liebling. Ich brauche nur noch ein Andenken!“

Waidmannsdank.  

Foto: Verdener Stadtwald
© Katrin Seliger


 

Pedro

Ich hasse Auto fahren. Schlimmer als das laute Brummen des Wagens, ist das eingesperrt sein in diesem kleinen Käfig. Ich passe mittlerweile nur noch mit Mühe hinein, an drehen ist gar nicht mehr zu denken. Ich frage mich, wohin mein Frauchen fährt. Zum Tierarzt dauert es normalerweise nicht so lange, außerdem bin ich alt, aber fit und sie hat erst vor kurzem alle Impfungen bei mir auffrischen lassen. Ich miaue kläglich und sofort folgt ihre beruhigende Stimme. 
„Alles gut, Pedro, wir sind gleich da, alles gut.“ Ich schiebe noch ein Miauen hinterher und ernte erneut einen liebevollen Wortschwall. Das ist fast so gut wie gekrault werden. Am Bauch mag ich es am liebsten, aber nur, wenn sie es macht. Nach einiger Zeit stoppt das Auto. Neugierig stoße ich meinen Kopf gegen die Käfigtür, ich muss dringend aufs Klo und Hunger habe ich auch. Betty nimmt mich aus dem Wagen und geht mit mir weiter. Langsam werde ich ungeduldig. Sie kann mich jetzt ruhig mal rauslassen, ich kann selber laufen. Nach einer Weile bleiben wir stehen. Sie öffnet die Käfigtür und ich schieße mit einem Satz hinaus. Wenn ich richtig sehe, sind wir mitten im Wald, die Gerüche machen mich ganz verrückt und ich springe wild umher. „Pedro, komm her.“ Ich renne zu Betty und beginne zu schnurren. Eine tolle Idee, einen Ausflug zu machen! Sie nimmt mich auf den Arm und drückt mich fest an sich. Ich spüre einen nassen Fleck auf meinem Kopf. Frauchen weint! Schnell lecke ich ihr übers Gesicht, das mache ich immer, wenn sie traurig ist. Meistens tröstet sie das schnell. 
„Pedro, es tut mir so leid, aber ich muss das einfach machen. Ich habe keine andere Wahl.“ Sie drückt mir einen Schmatzer mitten auf die Schnauze. „Ich liebe dich.“ Sie weint nun ziemlich heftig, Tränen rollen über ihr liebes Gesicht. 
Ich werde ganz unruhig, wenn sie so ist! Was ist denn nur los? Sie kramt in ihrer großen Handtasche und ich höre bereits am Knistern, was gleich zum Vorschein kommen wird. Katzensticks! Die gibt es sonst nur an meinem Geburtstag oder an Weihnachten. Heute muss ein besonderer Tag sein! Betty legt mir gleich vier Leckerlis vor die Nase und ich vergesse alles um mich herum. Ich bin süchtig nach diesen Dingern. Genüsslich mampfe ich alle auf. 
Als ich fertig bin, ist Betty verschwunden. Komisch. Normalerweise sagt sie immer, wohin sie geht und wann sie zurückkommt. Ich folge ihrem Duft, mein Riechorgan funktioniert noch ausgezeichnet, aber irgendwann verliere ich ihre Spur und weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Außerdem habe ich tierischen Durst, diese Sticks sind verdammt gut gewürzt. Ich laufe zum nahe gelegenen Bach und schlabbere minutenlang das herrlich frische Wasser. Das tut gut. Aber wo ist Betty? Ich maunze so laut ich kann. „Vergiss es. Sie kommt nicht wieder.“ Erschrocken springe ich in Angriffshaltung und lege meine Ohren zurück. Ein paar Meter neben mir sitzt eine ziemlich zerzauste Katze mit funkelnden, grünen Augen. 
„Wer bist du? Und woher willst du das wissen?“ Fremde Katzen sind mir sehr suspekt. 
„Ich bin Miffi. Mein Frauchen hat genau dasselbe gemacht. Mich hat sie auch mit diesem Korb hier rausgeschleppt, dann abgelenkt und weg war sie. Ich bin genau wie du stundenlang durch den Wald gelaufen und habe irgendwann die Orientierung verloren.“ 
„Ich habe nicht die Orientierung verloren! Ich wollte nur ein wenig trinken.“ „Sicherlich. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Du suchst sie und hast gerade keinen Schimmer, wo du bist.“ 
Die Katze grinst und ihre Augen funkeln noch intensiver. Ich gebe mich geschlagen und maunze kurz. Sie hat ja recht. 
"Ich kann nicht glauben, dass Betty mich hier ausgesetzt hat. Ich bin seit so vielen Jahren bei ihr! Warum tut sie mir das an? Sie war immer so lieb zu mir.“ 
Miffi kommt auf mich zu. Sie muss schon eine ganze Weile hier draußen leben, sie riecht nicht besonders gut und in ihrem Fell sitzt einiges an Ungeziefer. Trotzdem hat sie die schönsten grünen Augen, die ich je gesehen habe. 
„Überleg mal. Hat dein Frauchen einen neuen Freund? Kriegt sie ein Baby? Seit ihr umgezogen? Bei mir war das so und für mich plötzlich kein Platz mehr.“ Sie sieht mich mit traurig an. 
Herrje, ich kann einfach keine traurigen Frauen sehen. Ich lecke ihre Stirn und sie fängt augenblicklich an zu schnurren. 
„Hast du Hunger?“ Miffi läuft ein paar Meter zum Fluss und zeigt mir eine Maus. „Die habe ich vorhin erst gefangen.“ Eigentlich esse ich keine Beute von anderen Katzen, aber ich habe immer noch so großen Hunger, dass ich alle Bedenken über Bord werfe und die Maus gierig verschlinge. 
„Komm, ich zeige dir meinen Schlafplatz. Liegt sehr geschützt. Da sind wir ungestört.“ Tatsächlich hat Miffi sich in einer kleinen Höhle eingenistet, es ist kuschelig warm hier drinnen. Ich spüre, wie erschöpft ich bin und lasse mich in ihr Versteck fallen. Miffi schmiegt ihren Kopf an meinen und ein paar Augenblicke später schlafen wir aneinander gekuschelt ein. 
Morgen werde ich weiter nach Betty suchen. Ich bin mir sicher, dass sie mich wiederhaben will.

Foto: Peaches und Rosi
© Katrin Seliger


 

Villa Villekulla

Bergstraße 117. Ungläubig stehe ich vor dem Haus, in dem ich fast meine ganze Kindheit verbracht habe. Nichts erinnert mehr an meine geliebte Villa Kunterbunt, wie ich das Elternhaus meiner besten Freundin immer genannt habe. Die schönen grünen Holzrahmen, durch die es immer zog, waren durch neue Fenster ausgetauscht worden, das rote Dach durch blauschimmernde Pfannen ersetzt. Aber am meisten entsetzt mich der Garten. Wie Zinnsoldaten stehen Büsche und Sträucher in Reih und Glied, der Rasen sieht aus wie mit einer Nagelschere geschnitten und hässliche Marmorfiguren säumen das Tor. 

Diese Villa stand zwar nicht in Schweden, sondern in einem kleinen Dorf nah Hamburg. Es stand auch kein Pferd auf der Veranda und einen Affen gab es auch nicht. Aber genau wie die kleine Pippi Langstrumpf waren meine beste Freundin und ich oft allein. Meine Eltern waren den ganzen Tag in ihrem Lebensmittelladen beschäftigt, Julias Mutter war als Alleinerziehende ebenfalls auf einen Vollzeitjob angewiesen. Somit hatte Julia als Älteste die Aufgabe, auf ihre Geschwister aufzupassen. Ich als Einzelkind konnte mir nichts schöneres vorstellen, als sie dabei zu unterstützen. Fast jeden Tag gingen wir gleich nach der Schule zu Julia, und kochten mit roten Wangen für alle Kinder Spaghetti. Nach dem Essen legten wir die Jüngste, die kleine Lilli, schlafen. Sie ging erst seit kurzem in den Kindergarten und das strengte sie ziemlich an. Meistens durfte ich sie ins Bett bringen. Nach einem kurzen Lied küsste ich ihr warmes Gesicht und schloss leise die Tür. 
Wann immer das Wetter es zuließ, gingen wir in den Garten und machten unsere Hausaufgaben im Baumhaus. Julia brauchte dafür immer mehr Zeit, ich vertrieb mir die Zeit solange mit Schaukeln in der Hängematte. Wenn es mir zu lange dauerte, ließ ich sie einfach abschreiben. Am Nachmittag backten wir oft Karamellbonbons oder Kekse und veranstalteten ein Picknick im Garten. Mit den Nachbarskindern dachten wir uns eine Geheimsprache aus oder spielten Zora und die Rote Bande. Manchmal legten Julia und ich uns auch einfach nur auf eine Decke im Garten und erzählten uns Geschichten, wir besaßen eine blühende Fantasie! Am meisten liebte ich es, wenn wir Zoo spielten. Dazu holten wir die Kuscheltiere aller Geschwister aus dem Haus und bauten Gehege, in die wir die Tiere setzten. Bei vier Kindern kamen da eine Menge zusammen! Wir gruben eine Kuhle im Vorgarten, gleich unter dem schönen Lindenbaum, füllten sie so gut es ging mit Regenwasser, legten Lillis alte Plastikbadewanne hinein und boten den Nachbarskindern für 5 Pfennig Bootsfahrten an. Jeder Tag mit Julia und ihren Geschwistern war ein Abenteuer und ich genoss es in vollen Zügen. 
Eines Nachmittages erklärte mir Julia mit Tränen in den Augen, dass sie umziehen würden. Ihre Mutter hatte einen neuen Freund und einen besseren Job in Dortmund gefunden. Schon in den nächsten Herbstferien würden sie umziehen. Ich wusste, dieses war mein letzter Sommer in der Villa Kunterbunt. Den ganzen Nachmittag konnte ich nicht aufhören zu weinen. Julia hatte wie immer eine Idee, um mich zu trösten. 
„Wir vergraben eine Schatzkiste! Da legen wir Fotos, unsere Briefe und Glücksarmbänder rein!“ Genau so taten wir es. Die Plastikbadewanne verschwand aus der Kuhle, stattdessen legten wir die Kiste hinein und gruben sie zu. 
„Irgendwann kommen wir wieder und buddeln sie aus!“ Julias Augen funkelten und nicht eine Sekunde dachten wir daran, dass vielleicht eine andere Familie in die Villa Kunterbunt ziehen könnte. Dieses war unser Haus und würde es immer bleiben! 
Nur ein Jahr nach ihrem Auszug trennten sich meine Eltern und ich zog mit meiner Mutter ins weit entfernte Berlin. 

„Junge Frau, kann ich ihnen helfen?“ Ein älterer Herr öffnete die Haustür und sieht mich fragend an. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich schon eine ganze Weile in seinen Garten gestarrt haben musste. „Entschuldigung, nein, ich glaube nicht. Ich kannte mal jemanden, der hier gewohnt hat!“ 
„Tatsächlich?“ Neugierig tritt er an den metallisch glänzenden Gartenzaun. 
„Das können nur die Hotten-Totten gewesen sein, die vor mir hier gehaust haben! Sie können sich nicht vorstellen, wie der Garten aussah! Überall Löcher und irgendwelche wilden Sträucher! Da ist jahrelang nichts gemacht worden! Man, man, das war harte Arbeit, den wieder in Schuss zu bringen!“ Er sieht sich stolz um. „Was ich so gehört habe, wohnte hier eine allein erziehende Frau mit vier Gören. Da fehlte wohl der Mann im Haus!“ Er lacht schallend und hält sich den Bauch. 
„Die meinen sie bestimmt nicht, oder?“ Doch, genau diese Familie meinte ich. Sie waren die liebsten Menschen, die ich kannte und ich hatte mit ihnen die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht. „Hier stand ein Baum.“ Ich zeige in den Vorgarten. 
„Ja, das stimmt, eine alte Linde. Die musste weg.“ 
„Haben sie beim Umgraben im Garten irgendetwas gefunden?“ 
„Nein, nichts“. Der Mann sieht mich erstaunt an. „Sollte ich?“ 
„Nein. Ich habe nur so gefragt. Ich wünsche ihnen einen schönen Tag.“ 

Foto: Ionos
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